Rückblick auf das Zeitzeugengespräch mit einer französischen Holocaust-Überlebenden

Nachdem wir bereits im vergangenen November ein digitales Zeitzeugengespräch mit dem französischen Holocaust-Überlebenden Raphaël Esrail im Rahmen eines binationalen Kooperationsprojektes hatten durchführen können, konnten wir gestern nun ein weiteres Mal über „ZOOM“ zu einem besonderen Gespräch einladen. Zusammen mit 89 Schüler:innen aus drei Schulen (Gymnasien in Schkeuditz, Naunhof und Markranstädt) durften wir der Holocaust-Überlebenden Estelle Senot begegnen, die die Fragen der Schüler:innen beantwortete und von ihrer persönlichen Geschichte berichtete.

Estelle Senot wurde im Jahr 1928 unter dem Namen ‚Esther‘ in Kozienice in Polen als eines von später insgesamt sieben Kindern geboren. Ihre Familie praktizierte die jüdische Religion nicht – die Eltern sprachen Jiddisch und waren Kommunisten. Im Jahr 1930 kam die Familie nach Frankreich. Dort wurden die Eltern und der 11-jährige Achille im August 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort bei der Ankunft ermordet. ‚Esther‘ konnte noch ein Jahr lang einer Verhaftung entgehen, wurde dann jedoch im September 1943 in Paris festgenommen und nach Birkenau deportiert, wo sie in einem Frauenlager interniert war. In Birkenau überlebte sie den Todesmarsch. In Bergen-Belsen, wohin man sie verlegen ließ, blieb sie anschließend etwa zwei Monate – danach kam sie in ein anderes Lager mit 300 Frauen, bevor sie nach Mauthausen geschickt wurde. Dort wurde sie am 5. Mai befreit. Ihre Eltern, ihre Schwester Fanny, und ihre Brüder Achille und Marcel starben in Birkenau. Die anderen drei Brüder überlebten.  

Bereits kurz nach dem fast zweistündigen Gespräch erreichte uns eine erste Rückmeldung von Seiten der Schkeuditzer Schüler:innen, die das Gespräch mit Frau Senot im Austausch mit ihrem betreuenden Lehrer als besondere Erfahrung beschrieben. Auch wir waren dankbar für das Gespräch mit Frau Senot und wie immer sehr froh, dass wir gerade jungen Menschen diese besondere Möglichkeit bieten konnten. Ein Gespräch mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen kann etwas vermitteln, was ein Buch, ein Film, der Geschichtsunterricht niemals leisten kann – hier sprechen reale Erfahrungen, individuelle Geschichten, echte Emotionen.

Das Gespräch mit Frau Senot hat uns nicht nur persönlich berührt – es stellt ferner auch ein wichtiges erinnerungskulturelles Zeugnis dar. Besonders bewegend war die Antwort der Zeitzeugin auf die Frage eines Schülers hinsichtlich gegenwärtiger Entwicklungen – hierzu zählt etwa der wachsende Zuspruch zu rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien (wie z.B. der AfD) oder entsprechenden Positionen, die u.a. auch in aktuellen Protesten zu Tage treten. Estelle Senot erwiderte, dass sie sich gegenwärtig gesellschaftlich durchaus an die Dreißigerjahre zurückerinnert fühle: Dass die Rechten zunehmend in machtvolle Positionen rücken, sei für sie und andere Zeitzeug:innen durchaus besorgniserregend. Momentan könne sich wohl keiner so recht vorstellen, wohin sich das entwickeln könnte – sie aber, die es schon einmal erleben mussten, könnten erste Anzeichen für eine gefährliche Entwicklung erkennen.

Es sind Sätze und Erfahrungen wie diese, die uns Zuhörenden ganz neue Perspektiven und Eindrücke vermitteln können, als es abstrakte Gedankenspiele und Debatten, beinahe losgelöst von unserer Geschichte, jemals leisten könnten. Diese Gespräche lassen uns nicht nur an Erinnerungen teilhaben – sie mahnen uns gleichermaßen auch, aufmerksam zu bleiben.

Das Gespräch konnte in Zusammenarbeit mit dem Institut Français umgesetzt werden. Wir bedanken uns bei den Simulatanübersetzer:innen, die beteiligten Lehrer:innen sowie bei unseren Kooperationspartner:innen und Förderern für die gute Zusammenarbeit und das wichtige Projekt und hoffen, dass wir noch einige weitere Gespräche wie dieses realisieren können.

Gefördert wurde das Projekt vom Förderverein Ökologische Freiwilligendienste (FÖF) e.V. sowie durch die CIVS.

 

Bildquelle: https://www.timesofisrael.com/i-weighed-70-pounds-last-auschwitz-survivors-remember-a-living-hell/ – Abrufdatum: 28.04.2021