„Es geht um die Sicherung demokratischer und weltoffener Werte“ – Artikel von Henry Lewkowitz zur Gefährdung der Erinnerungskultur durch die extreme Rechte

Wenngleich der Diskurs um die „angemessene“ Erinnerung an die NS-Verbrechen keineswegs neu ist, zeigt er sich derzeit wieder so aktuell wie lange nicht mehr. Die bisherige Erinnerungspolitik stellt eine kritische Aufarbeitung des Holocaust dar und gilt als zentraler Teil der politischen Identität Deutschlands. Doch es zeigt sich immer wieder, dass sie von vielen – an erster Stelle den extremen Rechten – in Frage gestellt wird.

Was dies bedeutet, erklärt unser Geschäftsführer Henry Lewkowitz in seinem Artikel in der Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog dokdoc.eu. Eine deutsche Übersetzung finden Sie hier:

Nachdem am 08. Mai 2020 der 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa gefeiert wurde, wandelte sich auf einmal der Diskurs durch rechtspopulistische Politiker. Statt diesen Gedenktag als „Tag der Befreiung“ zu bezeichnen, sprachen sie vom „Tag der absoluten Niederlage“.
Die Folge: Kontroversen, Polarisierung und eine zunehmende Infragestellung der bisherigen Erinnerungspolitik. Die jährlich durchgeführte MEMO-Studie zur Erinnerungskultur in Deutschland belegt dies auf beeindruckende Weise.

Die „MEMO-Studie“

Die Ergebnisse aus den vergangenen Jahren zeigen, dass immer mehr Deutsche sich von der „negativen“ Geschichte ihres Landes abkehren wollen und den Fokus auf die „positive“ Geschichte setzen wollen, etwa die der Wiedervereinigung. In Zahlen ausgedrückt sieht dies folgendermaßen aus:

Die Studienergebnisse aus dem Jahr 2022 stimmen in diese erinnerungspolitischen Tendenzen ein.

In den Köpfen, auf der Straße, in den Parlamenten

Neben den wissenschaftlichen Erhebungen und verbalen Entgleisungen von Politikerinnen und Politikern zeigt sich auf außerparlamentarischer und intellektuellen Ebene in der Neuen Rechten, dass das Thema Erinnerungskultur strategisch im vorpolitischen, also nicht parlamentarischen Raum gesetzt wird. Die „Diagnose“, die Martin Sellner, der Kopf der Identitären Bewegung, 2019 auf Twitter ausstellte, lautet diesbezüglich: „Schuldkult und Selbsthass sind das Fundament des Westens“. Auch die intellektuelle Rechte äußert sich mit klaren Worten zum Thema, z.B. der Verleger Götz Kubitschek: „Was haben wir heute anzubieten? Keinen deutschen Traum, nur ein deutsches Trauma“. Es zeigt sich, dass hier mit konträren Bedeutungszusammenhängen und erinnerungspolitischen Forderungen agiert wird: So sollen eher „positive“ Denkmale an die Erinnerung „glorreicher Zeiten“ Deutschlands in die Öffentlichkeit gebaut werden statt „negative“ Mahnmale – in Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Ein Beispiel dafür sind die Äußerungen des AfD-Politikers Björn Höcke, der 2017 das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete.

Es wird damit deutlich, wie entsprechende, der Neuen Rechte nahestehenden Strukturen und Parteien gezielt immer wieder das Thema Erinnerungskultur besetzen und versuchen, nach eigenen Vorstellungen zu wandeln. Die bewusste Relativierung der NS-Verbrechen durch Aussagen wie „Vogelschiss in unserer […] Geschichte“ (Alexander Gauland, 2018) deutet auf den Versuch der Etablierung eines „neuen Geschichtskonzeptes von rechts“ hin. Dies wird auch am Beispiel der Forderung von Björn Höcke – AfD-Spitzenkandidat für die Thüringer Landtagswahl – nach einer „erinnerungspolitische[n] Wende um180°“ deutlich.

„Erweiterte Geschichtsbetrachtung oder eher Schlussstrichdebatte?“

Obwohl die AfD in ihrem Grundsatzprogramm (2016) von einer „erweiterten Geschichtsbetrachtung“ spricht, handelt es sich in der Praxis um das Gegenteil: Es geht darum, die NS-Erinnerung abzuschließen und die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust zu relativieren – oder nicht mehr zu thematisieren. Man kritisiert die angebliche „Beschränkung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus“ und wünsch sich eine Sichtweise auf die deutsche Geschichte, die die „positiven, identitätsstiftenden Aspekte“ hervorhebt. Die AfD hat kein Interesse daran, sich mit der Täterschaft der Vernichtung von 6 Millionen jüdischen Menschen auseinanderzusetzen. Stattdessen sieht sie sich und die Bevölkerung lieber in der Opferrolle.

In diesem Zusammenhang ist es plausibel, zu behaupten, dass das Nachlassen der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Wahlerfolge in Verbindung steht. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass jede neue Generation sich dieser Geschichte annimmt.

Vereine, Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich in der historisch-politischen Bildungsarbeit engagieren, spielen an der Stelle eine entscheidende Rolle. Zusammen mit den Schulen sensibilisieren junge Menschen dafür, sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und aktiv gegen die Tendenz zur Verharmlosung und Relativierung vorzugehen. Ein Beispiel dafür lässt sich etwa an einem Stolperstein-Projekt des Erich-Zeigner-Haus e.V. in Leipzig zeigen. Am 5. Oktober 2015 verlas die bekennende Holocaust-Leugnerin Tatjana Festerling auf einer Großdemonstration rechtsextremer und rechtspopulistischer Bewegungen in Leipzig eine Biografie der jüdischen Familie Rosenzweig, mit dem Ziel deren Echtheit in Frage zu stellen: „Wer diese Geschichten glaubt, ist der größten deutschen Lüge aufgesessen“, behauptete Festerling am Ende. Dabei zerriss sie, auf welchem der Auszug stand, den sie gerade vorgelesen hatte. Der Skandal kann heute noch auf Youtube gesichtet werden: Beispiele dieser Art gibt es mittlerweile viele. Der Erich-Zeigner-Haus e.V. erforschte dann mit Schülerinnen und Schülern einer lokalen Schule die Lebensläufe jedes einzelnen Familienmitglieds und verlegte dann Stolpersteine vor dem Haus, wo sie bis zu ihrer Deportation gelebt hatten. So konnte im öffentlichen Raum ein Zeichen gesetzt werden und die Erinnerung an das Schicksal der Familie Rosenzweig wachgehalten werden.

Kritische Erinnerungskultur als Wertevermittlung für die Jugend

Identität und Werte sind durch das Geschichtsbild rechtsextremistischer und rechtspopulistischer Parteien und Strukturen in Gefahr, verloren zu gehen. Erinnerungskultur spielt als Argumentationsfigur eine elementare Rolle in deren Begründung von Nationalismus, Chauvinismus und Ethnozentrismus. Deutlich wird diese Entwicklung nicht zuletzt im Kontext der Landtagswahlkämpfen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg.

Das derzeitige Erstarken der extremen Rechten darf nicht dazu führen, dass die Notwendigkeit einer lebendigen Erinnerungskultur und eine umfassende historisch-politischen Bildungsarbeit vernachlässigt wird – in Ost-Deutschland aber auch im Rest der Bundesrepublik. Stattdessen sollten wir diese Entwicklungen als Aufforderung betrachten, neue Zugänge zur Vergangenheit bereitzustellen und verstärkt das Engagement der Zivilgesellschaft zu fördern. Ihr Ziel ist nicht nur ein Wirken in der Gegenwart, sondern auch – und vor allem – eine Sicherung demokratischer und weltoffener Werte in der Zukunft.