Die Rechte als Friedenspartei?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist zu einem zentralen Thema im Europawahlkampf geworden. Die Rechtsextremismusexperten Nils Franke vom Erich-Zeigner-Haus e.V. und Jean-Yves Camus erläutern in der Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog dokdoc.eu, wie sich die AfD und der Rassemblement National dazu positionieren.

Nils Franke

2024 ist auch für Deutschland ein Superwahljahr: Im Juni stehen die Europawahlen an, im September die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie zahlreiche Kommunalwahlen. Vor allem bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland hat die AfD große Chancen, stärkste Partei zu werden. Im Hinblick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist es ihre Strategie, sich als vermeintliche Friedenspartei zu positionieren und damit auf Stimmenfang zu gehen.
Die Aussagen des Europawahlprogramms der AfD zur Ukraine und zu Russland sind übersichtlich. Beide werden jeweils nur achtmal erwähnt. Die Hauptaussagen zur Ukraine finden sich im Kapitel „Nationale Souveränität in der Asyl- und Migrationspolitik“ (S. 13), zu Russland im Abschnitt „Außenpolitik“ (S. 29).
Die Aussagen und ihre Umsetzung in Politik lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Regeln der Flüchtlingspolitik der EU oder der UN dürften keine Rolle mehr spielen. Die Bundesrepublik würde keine ukrainischen Flüchtlinge mehr aufnehmen, die Grenzen würden geschlossen. Andere Staaten müssten sich um die Geflüchteten kümmern. Denn schon jetzt sei Deutschland mit der Migration, auch aus der Ukraine, finanziell, materiell und kulturell überfordert. Während die Begriffe „finanziell“ und „materiell“ klar sind, ist dies bei der „kulturellen Überforderung“ nicht der Fall. Es soll offenbar bedeuten, dass die über eine Million Ukrainer in Deutschland eine Minderheit sind, deren kulturelle Praktiken fremdartig und nicht mehr tolerabel sind. Hier werden die Aussagen des AfD-EU-Wahlprogramms anschlussfähig an die klassische Propaganda rechtsextremer Parteien von einer angeblichen Überfremdung Deutschlands und dem „großen Austausch“.

Die Aussagen des AfD-EU-Wahlprogramms zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zielen auf einen Rückzug Deutschlands aus der internationalen Rechtsgemeinschaft bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung Russland. Die Sanktionen gegen das Land seien wirtschaftlich sinnlos und ideologisch motiviert. Die Unterstützung der Ukraine durch deutsche Waffenlieferungen lehnt die Partei ab.
Interessant ist auch ein Blick auf ein anderes Dokument, die „Friedensresolution“ des AfD-Landesverbandes Sachsen (2024), einem deutschen Bundesland, in dem im September die Landesregierung gewählt wird. Der Landesverband behauptet darin, dass alle anderen Parteien im Bundestag in Kooperation mit dem bestehenden öffentlich-rechtlichen „Mediensystem“ das Ziel verfolgen, die Bundesrepublik an der Seite der Ukraine immer weiter in den Krieg mit Russland zu führen. Es entsteht ein Verschwörungsnarrativ, das sich wie folgt liest: Deutschland sei kein souveräner Staat. Ihre politischen Entscheidungen würden von EU und NATO diktiert. In diesem Sinne hätten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande bereits während ihrer Amtszeit gemeinsam mit den USA und Großbritannien auf einen Krieg mit Russland in der Ukraine hingearbeitet. Nun finde ein Stellvertreterkrieg zum Vorteil der USA und zum Nachteil Europas und Deutschlands statt. Dieser Krieg habe ein hohes Eskalationspotenzial, da die Lieferung von immer schwereren Waffen am Ende auch den Einsatz von Bodentruppen bedeuten könne. Sogar ein dritter Weltkrieg könnte vor der Tür stehen. Deshalb müsse die Unterstützung der Ukraine durch deutsche Waffenlieferungen beendet werden.

Dieser „Friedensresolution“ liegt also ein Verschwörungsnarrativ zugrunde. Sie ist ungeeignet zur Beurteilung eines internationalen Konflikts und spielt rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteuren in die Hände. Sie spielt dem Aggressor Russland in die Hände und schwächt den Abwehrkampf der Ukraine. Und sie ermöglicht den Schulterschluss mit Verfassungsfeinden und Demokratieverächtern.
Die AfD inszeniert sich zwar vor den anstehenden Wahlkämpfen als Friedenspartei, unterstützt aber in der Substanz ihrer politischen Positionen den Kriegstreiber Russland.

Jean-Yves Camus

30 Prozent der Wahlberechtigten wollen bei den Europawahlen für den Rassemblement National (RN) stimmen, so die Prognosen von Anfang April. Damit läge die Partei weit vor der Wahlliste von Staatspräsident Emmanuel Macron (18 Prozent) und der Liste der Sozialdemokraten (12 Prozent). Sollte der RN am 9. Juni tatsächlich so deutlich vorne liegen, würde Marine Le Pen einen wichtigen Schritt auf ihrem Weg in den Elysée-Palast (2027) machen. Mehrere – allerdings sehr frühe – Umfragen trauen ihr im zweiten Wahlgang 50 Prozent der Stimmen zu, genauso viele wie dem amtierenden Premierminister Gabriel Attal.

Die Regierung und die Präsidentenpartei Renaissance werfen dem RN im Europawahlkampf immer wieder vor, russische Propaganda zu verbreiten. Dieses Argument hat an Schlagkraft gewonnen, als der tschechische Geheimdienst am 27. März die Zerschlagung eines von Moskau finanzierten Netzwerks bekannt gab, das über seine Desinformationsseite Voice of Europe prorussische Propaganda über die Ukraine verbreitete. Valerie Hayer, Spitzenkandidatin der Renaissance-Partei, und die Europaabgeordnete Nathalie Loiseau haben wiederholt darauf hingewiesen, und der Premierminister selbst hat den RN beschuldigt, als fünfte Kolonne Moskaus „Russland mehr zu unterstützen als die Ukraine“ (6. März).
Diese Vorwürfe sind nicht aus der Luft gegriffen: Der Front National (heute Rassemblement National) hatte 2014 einen inzwischen zurückgezahlten Kredit in Höhe von 9,4 Millionen Euro bei einer russischen Bank aufgenommen. Zudem traf sich Marine Le Pen 2012 mit Wladimir Putin und erklärte 2014 gegenüber der österreichischen Zeitung Kurier, mit dem russischen Präsidenten „gemeinsame Werte zu teilen“: nämlich Patriotismus, die Souveränität der Völker und „das christliche Erbe der europäischen Zivilisation“. Zur ideologischen Nähe zum Kreml passt auch das geopolitische Projekt des FN-RN mit der Ablehnung eines föderalen Europas und einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik. Die deutsch-französischen Rüstungsprojekte sollen beendet werden. Frankreich sollte sich zudem aus den integrierten militärischen Kommandobehörden der NATO zurückziehen und im Sinne eines „gaullistischen“ Verständnisses nationaler Unabhängigkeit auf Distanz zu den USA gehen. General de Gaulle, in dessen legitimer Nachfolge sich die Partei sah, war stets bemüht, den Frieden nach allen Seiten hin zu wahren und Frankreich durch die gebotene Distanz aus Konflikten herauszuhalten.

Aber ist der RN die Partei des Friedens? Sie stellt sich selbst als solche dar. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine plädiert Marine Le Pen für eine strategische Annäherung zwischen der NATO und Russland, „sobald der russisch-ukrainische Krieg beendet und durch einen Friedensvertrag geregelt ist“. Sie räumt zwar Kriegsverbrechen in Butscha ein und akzeptiert, dass Frankreich den ukrainischen Diensten Geheimdienstinformationen zur Verfügung stellt, weigert sich aber, Wladimir Putin einen „Kriegsverbrecher“ zu nennen: „Man verhandelt nicht über Frieden, wenn man gleichzeitig eine der beiden Kriegsparteien beleidigt“. 2022, als Präsidentschaftskandidatin, lehnte sie Sanktionen gegen Russland ab und äußerte sich zurückhaltend zu Waffenlieferungen an Kiew mit der Begründung, dass „die rote Linie zwischen der Unterstützung der Ukraine und dem Risiko, selbst Kriegspartei zu werden, sehr schmal ist“.

Als sich der RN so positionierte, unterstützten noch 82 Prozent der Franzosen die Ukraine. Seitdem Emmanuel Macron öffentlich die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine für möglich hält, haben nur noch 58 Prozent eine „gute Meinung“ von dem Land, unter den RN-Anhängern sind es sogar nur noch 43 Prozent. Der RN sieht sich als Friedensgarant für diejenigen, die nicht wollen, dass sich die militärischen Verluste in Afghanistan und der Sahelzone nun in der Ukraine wiederholen. Aber es wäre ein Frieden durch Unterwerfung. Jordan Bardella, derzeitiger Parteivorsitzender des RN und Spitzenkandidat der Partei bei den Europawahlen, behauptet im Gegensatz zu Marine Le Pen, dass „Russland eine offensive Strategie gegenüber Europa verfolgt“ und „eine Bedrohung für unsere persönliche Sicherheit als Nation darstellt“. Beide akzeptieren jedoch die Annexion der Krim, lehnen einen EU-Beitritt der Ukraine ab und kritisieren die „Kriegstreiberei“ des Präsidenten. Objektiv spielt dies Moskau in die Hände und fördert die moralische Abrüstung der Franzosen angesichts der russischen Desinformationskampagnen und Drohungen.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Die Gäste

Nils Franke ist Historiker und Leiter des Wissenschaftlichen Büros Leipzig. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, die Natur- und Umweltschutzgeschichte und die Extremismusprävention. Er ist zudem ehrenamtlich im Vorstand der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/ehemals Auschwitz tätig.

Jean-Yves Camus ist Direktor des Observatoriums für politische Radikalität (ORAP) bei der Jean-Jaurès-Stiftung und assoziierter Forscher am Institut für internationale und strategische Beziehungen (IRIS), beide in Paris. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zeitgenössischen rechtsextremen Bewegungen in Europa sowie die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und den radikalen nationalistischen Bewegungen in Westeuropa.